Was heißt „systemisch-lösungsorientierte Begutachtung“?

In seinen Grundzügen wurde der lösungsorientierte Ansatz seit 1987 entwickelt, als Prof. Jopt erstmals darlegte, dass es den Bedürfnissen von Trennungskindern entspricht, wenn psychologische Begutachtungen nicht ausschließlich nach dem Muster eines diagnostischen Suchauftrags (nach dem geeigneteren Elternteil) erfolgen, sondern einen Gestaltungsauftrag umfassen (Jopt, 1987).

Dabei sollen Sachverständige versuchen, Streitpotential zwischen Eltern abzubauen und eine einvernehmliche Lösung anstreben, weil die seelischen Belastungsfolgen für Kinder dann am geringsten sind. Wenn dieser Versuch scheitert, soll dem Gericht ein konkreter Entscheidungsvorschlag unterbreitet werden.

Theoretischer Hintergrund ist eine systemische Betrachtung der Trennungsfamilie. Demnach verändert sich für Kinder durch Trennung zwar das Familienleben, das Netzwerk ihrer emotionalen Beziehungen zu Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten besteht jedoch fort.

Vorrangige Aufgabe des Familiengerichts ist deshalb, Kinder vor Beziehungsabbrüchen und anderen Trennungsfolgen bestmöglich zu schützen. Das klingt zunächst einfach, die Schwierigkeit besteht jedoch in der Umsetzung. Trennungspaare sind meist seelisch stark erschüttert, aufgewühlt, und obendrein ist jeder der beiden Ex-Partner fest davon überzeugt, dass für Streit und Probleme der jeweils andere verantwortlich ist. Der Grund dafür liegt in einem psychologischen Mechanismus kausaler Verantwortungszuschreibung, der als Interpunktion bezeichnet wird und immer dann auftritt, wenn es um zwischenmenschliche Konflikte geht. Da er für alle Beteiligten nach demselben Muster abläuft, ist jeder sowohl „Opfer“ (aus eigener Sicht) als auch „Täter“ (aus Sicht des Partners) (s. Jopt, 1992; 2002). Deshalb ließ sich 1977 die Schuldfrage zwar aus dem Scheidungsrecht streichen, im Denken und Fühlen der Betroffenen gehören jedoch Anklagen und Vorwürfe bis heute so selbstverständlich zum familiengerichtlichen Alltag, als hätte es den Wandel zum Zerrüttungsprinzip nie gegeben.

Der langjährige Familienrichter Willutzki (1997) vermutet, dass ein „Urbedürfnis nach Schuldfeststellung“ offensichtlich tief im Menschen verankert sei. Das ist im Prinzip die Beschreibung von Interpunktion aus juristischer Sicht.
Dieser Prozess unterschiedlicher Selbst- und Fremdetikettierung bestimmt die gesamte Dynamik auf der Paarebene. Mit den Fragen zukünftiger Gestaltung der Elternschaft (bei wem soll das Kind leben; wie soll der Umgang aussehen) hat dies rein logisch betrachtet nichts zu tun, psychologisch bestimmt er jedoch auch die Elternebene nachhaltig mit. Die Familiengerichte bemühen sich zwar, die Paarebene durch Ermahnungen an die Beteiligten zurückzudrängen, in hoch strittigen Fällen sind solche Appelle jedoch meist fruchtlos. Es scheint vielen Trennungspaaren erst dann möglich zu sein, die eigene Problematik im Rechtsstreit zumindest zeitweilig auszublenden, wenn sie auch „emotional verabschiedet“ sind.

Hier setzt das systemisch-lösungsorientierte Konzept an, das die unbewältigten Paarprobleme nicht länger ausblendet, sondern sie als real bestehende motivationale Triebfeder erkennt, die sofort aktiviert wird, sobald es um Fragen geht, die auch nur peripher die einstige Partnerschaft berühren. Die schwierige Aufgabe besteht darin, zwei Elternteile für einen gemeinsamen Weg zu gewinnen, die doch auf Grund ihrer Paargeschichte extrem polarisiert und emotional belastet sind. Um diese Aufgabe, die im Einzelfall der Aufforderung zur Quadratur des Kreises gleichkommen kann, zu bewältigen, müssen die verschiedenen Rollen entflochten werden, müssen die Erwachsenen erkennen, dass die eigentlichen Wurzeln ihrer Konflikte die Partnerschaft betreffen und nicht die Elternschaft. Deshalb wird die Paarebene – wie viel Raum sie einnimmt, hängt vom Einzelfall ab – im Rahmen gemeinsamer Elterngespräche ausdrücklich aufgegriffen, bevor die Kinder im Mittelpunkt stehen. Es wird somit nicht der Konflikt selbst negativ gesehen, sondern sein Übergreifen auf das Kind.

Die psychologische Begründung für dieses Vorgehen findet sich an anderer Stelle (Bergmann, Jopt & Rexilius, 2002). Dem systemisch-lösungsorientierten Konzept liegt somit die Überzeugung zu Grunde, dass eine Thematisierung der Paarebene die Voraussetzung schafft, damit die Ex-Partner sich „als Eltern“ auseinandersetzen können. Ziel ist es also nicht, die Paarebene zu harmonisieren, sondern die Elternebene zu isolieren. Auf diese Weise steigt die Wahrscheinlichkeit für eine wirklich einvernehmliche, von beiden innerlich mitgetragene Lösung deutlich an, da jetzt eine Gemeinsamkeit der Eltern zum Tragen kommen kann, die in Anbetracht aller Auf- und Abwertungen durch sie selbst wie durch ihre Prozessbevollmächtigten völlig untergehen kann – beide lieben ihre Kinder.

Trennungspaare sind oft davon überzeugt, ihr Fall sei einzigartig. Sie erkennen nicht, dass dies zwar für die Besonderheiten ihrer persönlichen Geschichte zutrifft, nicht jedoch für Ablauf, Dynamik und Konflikteskalation des Trennungsprozesses. Tatsächlich ähneln sich die Regeln, nach denen Trennungen verlaufen, aber sehr, sodass sich der einzelne Fall aus fachlicher Sicht in der Regel nicht annähernd so dramatisch und exklusiv darstellt. Um das auch selbst erkennen zu können, müssen die Ex-Partner aufgeklärt werden. Deshalb erhalten sie zunächst umfassende Informationen über trennungstypische Konfliktverläufe, damit die interpunktionsbedingte Täter-Opfer-Aufspaltung zumindest ansatzweise entpolarisiert werden kann. Werden so die wechselseitigen Negativbilder aufgeweicht, wirkt sich dies in der Regel auch auf die Elternrollen positiv aus.

Damit ist die Voraussetzung geschaffen, um auf die Elternebene, zu wechseln. Auch hier geht es zunächst um Information und Aufklärung, diesmal zur psychischen Lage und den Bedürfnissen trennungsbetroffener Kinder. Dabei wird aufgezeigt, dass bei einer Trennung deren Bedürfnisse und Interessen in der Regel andere sind als die der Erwachsenen. Während sich die einstigen Partner am liebsten aus dem Weg gehen möchten (häufig will dies auch nur einer), bleiben Kinder auf ihre Familie, vor allem ihre Eltern, fixiert und wünschen sich deshalb das genaue Gegenteil – möglichst viel Nähe zu beiden.

Die Vermittlung von Erkenntnissen der Scheidungsforschung dient als Vorbereitung, um die Eltern empathisch und sensibel für die psychische Situation ihres Kindes zu machen. Dazu verschaffen sich systemisch-lösungsorientierte Sachverständige zuvor einen Eindruck davon, ob, ggf. wie stark, und durch wen das Kind bereits instrumentalisiert, d. h. auf subtile Weise und häufig unbeabsichtigt so beeinflusst wurde, dass seine Beziehung zum anderen Elternteil gestört ist – im Extremfall bis zur totalen Umgangsverweigerung. Da durch die Aufklärung der Eltern deren Bereitschaft, einander zuzuhören, angestiegen ist und da kein Elternteil seinem Kind bewusst schaden will, können jetzt im Verlauf von gemeinsamen Gesprächen Ressourcen für eine Konfliktlösung freigelegt werden, die verschüttet waren, so lange die Aufmerksamkeit im Verlauf des Rechtsstreites ausschließlich auf den eigenen „Sieg“ gerichtet war.

Die Folge: Mit Unterstützung systemisch-lösungsorientierter Sachverständige werden die Eltern Lösungen entwickeln, die bis dahin, obwohl manchmal genauso bereits von anderer Seite vorgeschlagen, kategorisch abgelehnt wurden.
Erreichen die Eltern eine einvernehmliche Lösung, wird dies dem Gericht mitgeteilt und das Verfahren kann durch einen gerichtlich genehmigten Vergleich beendet werden. Dabei wird auch als Absichtserklärung aufgenommen, dass die Eltern bei zukünftigen Konflikten, die sie selbst nicht lösen können, erst nach einer außergerichtlichen Lösung suchen. Systemisch-lösungsorientierte Sachverständige stehen dabei, das ist eine weitere Besonderheit dieses Ansatzes, den Eltern auch nach Beendigung der Begutachtung als Ansprechpartner/in zur Verfügung.